Moderner Fußball? Leicester City!

Sportwissenschaft als Maß aller Dinge in der Premier League

BBC Sport ermöglicht den Blick hinter die Kulissen eines einzigartigen, ungewöhnlichen Fußball-Experiments. Das englische Fußballwunder von Leicester wird nicht nur als beispielloser Triumphzug eines Underdog-Teams in die Fußballgeschichte eingehen. Darüber hinaus ist er aber vor allem ein Meilenstein der modernen Sportwissenschaft und beispielloser Triumphzug des modernen Fußballs. Ein krasser Außenseiter triumphiert dank eines ausgeklügelten, ganzheitlichen und radikal im Dienste wissenschaftlicher Erkenntnisse aufgebauten Profisportsystems, in dem es vorrangig um die optimale Leistungsfähigkeit von Profi-Spielern und weniger um die subjektiven Befindlichkeiten von Trainern geht.

Denn ein „Das haben wir schon immer so gemacht“ eines autoritär entscheidenden Trainerstabes scheint in Leicester durch die konsequente Umsetzung neuester trainingswissenschaftlicher Erkenntnisse ins Gegenteil verkehrt: Der Fachmann – und zwar der Fachmann auf seinem Gebiet – entscheidet über die optimale Einsatzfähigkeit eines Spielers. Der Fitness-Coach ist genauso gefragt wie der Mentaltrainer oder in seinem Bereich dann zuletzt doch der verantwortliche Trainer, der am Ende die Fäden zusammenhält. Eine ganzheitliche Team- und Vereinsleistung, die seinesgleichen sucht.

Die Fußballwelt reibt sich die Augen und sieht zum ersten Mal auf höchstem Profiniveau bestätigt, was man mit konsequenter Anwendung neuester Erkenntnisse sogar mit einem Premiere League Team erreichen kann: den absoluten Fußball-Gipfel. Doch Gipfelstürmer haben durchaus auch etwas Radikales. Der Blick hinter die Kulissen offenbart: Allen Fußballgrundgesetzen zum Trotz hat Leicester City alle eingefahrenen Regeln „auf Herz und Nieren“ geprüft und das radikal modernisiert, was die aktuelle Trainingswissenschaft an neuen Erkenntnissen bereitgestellt hat.

Die Daten und Fakten sind beeindruckend: Leicester City ist in der Premier League dasjenige Team mit den wenigsten Verletzungen seiner Spieler. Es kann auf die wenigsten Spieler im Kader verweisen, die während der Saison eingesetzt wurden. Das ist Indiz dafür, dass die Stammspieler im Team kaum Pausen benötigen. Sicherlich ist dies einem äußerst komfortablen Zustand geschuldet. Leicester wurde bereits sehr früh in der Saison aus den Pokalwettbewerben herauskatapultiert, so dass sich das Team ausschließlich auf die Meisterschaft konzentrieren konnte. Und dennoch bleibt auffällig, dass der Spielstil von Leicester City durch jenen kraftraubenden Tempofußball geprägt ist, der normalerweise folgerichtig eine äußerst hohe Verletzungsquote aufweist. Bei Leicester City jedoch? Fehlanzeige!

Deshalb rückt die Frage nach der Trainingsmethodik in den Fokus. Und hier hat Leicester City an den herkömmlichen Fußball-Grundgesetzen gehörig gerüttelt und – zunächst weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – geradezu eine Fußball-Revolution ausgelöst. Ausgehend von der These, dass eine der Hauptursachen von Verletzungen die sogenannte Hamstring-Muskulatur (Bereich hinterer Oberschenkel) ist, wurde auf eine konsequente Stärkung und Prävention des Spieler-Kaders gesetzt. Konkret bedeutete dies beispielsweise im wöchentlichen Trainingsrhytmus, dass am Ende einer Woche Spezialsprinttrainings eingefügt wurden, gezielt dosiert nach der Belastungsintensität eines jeden einzelnen Spielers. Wenn beispielsweise ein Mittelfeldspieler punktuell die Hamstring-Muskulatur wenig belastete, wurde ein präventives Extra-Trainingsmodul hinzugefügt, um genau diesen Bereich zu stärken.

Für alle, die hinsichtlich Ernährung im Fußball immer noch milde lächeln, wird der Fall Leicester City ebenfalls zum Exzentriker unter den Top Teams: Um noch einmal die letzten minimalen Prozente der Spieler zu mobilisieren, wurden von der Ernährungsabteilung vor jedem Spiel Rote-Beete-Shots verabreicht – bekannt auch durch die neue Smoothie-Welle aus Amerika, die mittlerweile auch Deutschland beispiellos überrollt.

Control-Freaks kommen bei Leicester City ebenfalls auf ihre Kosten: Besonderer Fokus gilt der Regeneration der Spieler. Neben geregelten Wochenplänen wurde ein 48stündiger Erholungsprozess eingefügt, ein freier Tag in der Mitte der Woche als Novum „verordnet“ und die tatsächliche Regeneration eines jeden Spielers akribisch überwacht. Dies erfolgt direkt auf dem Platz. Mittels einer datensammelfreudigen GPS-Weste, die Intensitäten, Beschleunigungen, Richtungswechsel etc. am Trainingsort transparent macht. Diese Daten fließen sofort in die aktuell stattfindende Trainingseinheit ein, was dazu führt, dass ein einzelner Spieler auch einmal komplett aus einer laufenden Übung herausgenommen wird, wenn seine Belastungsgrenzen aufgrund der aktuellen Datenlage überschritten sind. Um den subjektiven Eindruck eines Spielers den elektronisch gewonnenen Daten adäquat gegenüberstellen zu können, wurden zudem täglich Fragebögen über den persönlich empfundenen Allgemeinzustand des Spielers als Selbstauskunft abgefragt. Dinge wie Schlafverhalten, Feedback auf Trainingseinheiten oder andere Faktoren führen zu einem ganzheitlichen Bild über den momentanen Zustand des Spielers.

Ein absolutes Novum des Vereins und dessen ganzer Stolz ist die Kältekammer. Sie dient dient der schnelleren Regeneration der Spieler, die sich dort bei bis zu -135° C bis zu 4 min. lang aktiv regenerieren können – und das bei trockener Kälte, die hautverträglicher ist. Dies bewirkt ein nachgewiesen positives Schlafverhalten am gleichen und sogar noch am Folgeabend/-nacht. Zusätzlich werden die Spieler nach jedem Training und Spiel generell mit Eisbeuteln massiert. Darüber hinaus wäre noch viel über die Mental-Team-Arbeit zu sprechen und weitere Faktoren, die den Verein zu einem international beachteten Vorzeigeprojekt haben werden lassen.

Traum oder Fußball-Wirklichkeit? Dieser Premier-League-Triumph hat ein neues „Kapitel“ des modernen Fußballs aufgeschlagen. proffac hat dieses „Kapitel“ seit einiger Zeit mit wachsendem Enthusiasmus verfolgt und sieht sich in der eigenen Arbeit bestätigt. Die Fußball-Zukunft wird sich damit auf einen neuen Weg begeben und viele unserer Spieler werden diese Veränderungen hautnah erleben (dürfen).

Mehr Infos unter: http://m.bbc.com/sport/football/36189778 Leicester City: The science behind their Premier League title. By Alistair Magowan. BBC Sport. Stand Mai 2016.